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Libera Università di Bolzano

Muttersprache – ein Etikett, (zu) verschiedene Inhalte?

Der Begriff „Muttersprache” ist allgegenwärtig doch er wird selten eindeutig definiert. In diesem Text geht Prof.in Andrea Abel seinen vielschichtigen Bedeutungen auf den Grund.

Di Andrea Abel

Andrea Abel ist Professorin für Germanistische Sprachwissenschaft an der Fakultät für Bildungswissenschaften. Foto: unibz
Andrea Abel ist Professorin für Germanistische Sprachwissenschaft an der Fakultät für Bildungswissenschaften. Foto: unibz

„I know four different languages, but I don't speak any of my native ones“, sagt die Regisseurin und Hauptdarstellerin des Films „Gingerbread for her dad“, der im Rahmen des heurigen „Bolzano Film Festival Bozen“ ausgestrahlt wurde. Auf der anderen Seite fordern Stellenanzeigen häufig „Muttersprache Deutsch“ oder „Deutsch auf Muttersprachenniveau“. Zweimal geht es um die Muttersprache, zweimal um völlig unterschiedliche Dinge: einmal um fehlende Kompetenz, einmal um hohe Kompetenz. Wir lesen, hören, verwenden den Begriff ständig, häufig in Bildungskontexten. Aber was meint er eigentlich?

Genau das ist nicht klar und genau deshalb wird er in der Linguistik als problematisch angesehen. Betrachten wir ihn aus der Spracherwerbsperspektive, dann bezeichnet er die erste Sprache, die erworben wird, in der Linguistik Erstsprache genannt. Nun wissen wir aber auch, dass wir mehr als eine Sprache als erste Sprache lernen, also einen bilingualen Erstspracherwerb erfahren können. In welchem Alter der Erstspracherwerb endet und der Zweitspracherwerb beginnt, lässt sich nicht so ohne Weiteres sagen. Die Bezeichnung Erstsprache trifft auf jeden Fall auf diejenige(n) Sprache(n) zu, die wir ab der frühesten Kindheit üblicherweise in der Familie lernen.

„Muttersprache“ wird aber nicht nur mit der Erwerbsreihenfolge in Verbindung gebracht, sondern häufig auch als Synonym für eine sehr hohe Sprachkompetenz verwendet: das vielzitierte „muttersprachliche Niveau“, das uns häufig als quasi unerreichbares Fernziel im Fremdsprachenunterricht vorschwebt. Wie soll man sich nun ein solches Niveau vorstellen? Eines ohne hörbaren Akzent? Ohne Grammatikfehler? Von derartigen Vorstellungen haben sich die Linguistik und die Fremdsprachendidaktik bereits vor Langem verabschiedet. Im Vordergrund stehen vielmehr kommunikative Kompetenzen, die Auffassung, dass wir mit Sprache handeln: uns mit Freundinnen unterhalten, etwas erzählen, einen Film verstehen, einen Kranken beraten, jemanden trösten. Und dennoch hält sich das Bild des bzw. der (idealen) Muttersprachler:in hartnäckig, teilweise indirekt, indem nämlich Fremdsprachenkompetenzen einer „muttersprachlichen“ Kompetenz gegenübergestellt werden. Das erweckt unter anderem den Eindruck einer homogenen Gruppe von Muttersprachler:innen. Dabei ist bekannt, dass Personen mit ein- und derselben dominanten Sprache je nach Alter und Erfahrung beispielsweise geschriebene Texte völlig unterschiedlicher Qualität produzieren: Eine Journalistin schreibt anders als ein Tischler, eine 17-jährige Schülerin anders als ein Blogger.

Außerdem müssen wir uns fragen, woran das „muttersprachliche“ Niveau gemessen wird. Für gewöhnlich ist unausgesprochen die Standardsprache und nicht ein Dialekt die Bezugsgröße. Und dabei wachsen viele Menschen mit einem Dialekt als Erstsprache auf, mit einer Art idealem Standard niemand. In Südtirol gilt das für einen großen Teil der deutschsprachigen Bevölkerung, die Deutsch als Muttersprache bezeichnet.

Damit wären wir bei einer weiteren Bedeutung von „Muttersprache“, nämlich einer identitätsbezogenen. In Südtirol trifft diese Bedeutung für das Deutsche besonders auf den Dialekt zu. „Muttersprache“ drückt die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft aus, nimmt Bezug auf das kulturelle Erbe. Das kann so weit gehen, dass man Sprachen selbst dann als Muttersprachen wahrnehmen kann, wenn man sie überhaupt nicht spricht – wie die Regisseurin von „Gingerbread for her dad“. Die Kompetenzperspektive tritt dabei völlig in den Hintergrund. Zudem können sich Sprachkompetenzen von Personen, auch in einer Erstsprache, je nach Erfahrungen und Verwendungsmöglichkeiten im Laufe des Lebens verändern.   

 „Muttersprache“ wird bisweilen auch als etwas aufgefasst, das eine Art biologische Komponente aufweist. Die Metaphorik in „Muttersprache“ oder „native language“, wie wir im Englischen häufig dazu sagen, spricht Bände: Sie legt nahe, es handle sich um etwas Vererbtes oder Angeborenes, aufgrund dessen jemand einer bestimmten ethnischen Gruppe angehört. Und das beeinflusst mitunter die Vorstellungen etwa von Nation, Nationalsprache und im Weiteren davon, in welcher Sprache Bildung stattfinden soll.

Welche Sprache(n) und Dialekte in Bildungskontexten welche Rolle spielen sollen und dürfen, darüber wird in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Ein inhaltlich uneindeutiger und ideologisch aufgeladener Begriff wie „Muttersprache“ wird die Diskussionen allerdings kaum entschärfen helfen können.

Dieser Text wurde in der Zeitschrift ff am 24.04.25 veröffentlicht.