Von Moskau nach Bozen: Dmitry Chaltsevs zweite Karriere in Südtirol
By Susanne Pitro

Wie kann der Personaleinsatz in der Notaufnahme von Krankenhäusern optimiert werden? Wie können Produktionsprozesse mit nur wenigen Klicks am Bildschirm effizienter gestaltet werden? Das sind nur einige der Herausforderungen, an denen Dmitry Chaltsev in seinem abwechslungsreichen Arbeitsalltag bei Fraunhofer Italia tüftelt. Seit 2018 ist der russische Softwareingenieur und Mathematiker Teil des Teams der ersten unabhängigen Niederlassung der renommierten Fraunhofer-Gesellschaft. Seine Expertise? Prozesssimulation und Multi-Agenten-Systeme. Mit mathematischen Modellen kann er „Was-wäre-wenn“-Szenarien durchspielen und die Auswirkungen von Veränderungen modellieren, bevor diese umgesetzt werden.
Eine zweite Karriere, die so nie geplant war. Bis 2016 unterrichtete Dmitry Chaltsev mit Freude Mathematik an einer russischen Oberschule. Doch dann traf er gemeinsam mit seiner Frau eine weitreichende Entscheidung: Russland zu verlassen. „Die politische Situation spitzte sich damals immer mehr zu. Die Meinungsfreiheit wurde zunehmend eingeschränkt und wir hatten das Gefühl, dass es höchste Zeit ist zu gehen. Auch weil ich damals bereits 42 Jahre alt war, und dachte: Jetzt oder nie.“
Wo sie sich ein neues Leben aufbauen wollten, war dem Paar klar. „Sechs Jahre davor hatten wir ein Monat lang Italien bereist, und bereits damals beschlossen wir: Sollte wir Russland jemals verlassen, möchten wir hier leben.“ Doch wovon? Dass eine Zukunft als Mathematiklehrer im Ausland unrealistisch ist, lag auf der Hand. Stattdessen setzte Dmitry auf eine Leidenschaft, die er schon im Zuge seines Mathematikstudiums entwickelt hatte: das Programmieren. Noch von Moskau aus macht er sich auf die Suche nach englischen Masterstudienangeboten im Bereich Software und landete auf der Webseite der Freien Universität Bozen. Bereits wenige Monate später startete er als Student eines Informatik-Masterstudiengangs in Bozen neu durch.
Seine zweite Studienzeit hat der Russe als rundum positive Erfahrung in Erinnerung. Allen voran begeisterte ihn der praxisorientierte Ansatz seines Studiums: „Im russischen Bildungssystem stehen Theorie und Auswendiglernen sehr im Vordergrund“, erzählt Dmitry. „Hier dagegen konnten wir das neu erworbene Wissen in fast jedem Kurs unmittelbar praktisch im Labor umsetzen“ Nur beim Feiern konnte er mit seinen Kolleg:innen nicht mithalten. „Feste mit mehr als fünf Leuten überfordern mich“, sagt er und lacht. Erst recht, nachdem er morgens nicht ausschlafen konnte. Denn noch vor seinen Vorlesungen hielt er damals selbst Online-Mathematikstunden – für russische Schüler:innen einer Online-Schule.
Obwohl für seinen Masterstudiengang keine Praktikumspflicht bestand, nutzte Dmitry Chaltsev die Chance, praktische Erfahrung in einem Unternehmen zu sammeln. Dank dem Praktika- und Jobservice der unibz fand er ein dreimonatiges Praktikum bei – Fraunhofer Italia. Eine Erfahrung, die sich als Vorzugsticket erwies, als er sich dann ein Jahr später nach seinem Studienabschluss auf eine Anzeige von Fraunhofer bewarb.
Heute hat das russische Paar Wurzeln in Südtirol geschlagen: Sie unterrichtet Englisch, während er heimische Unternehmen und Institutionen bei ihren Digitalisierungs- und Optimierungsbemühungen unterstützt. Einziger Wehrmutstropfen in diesem neuen Leben? Das liebe Geld. Die Kreditraten ihrer Bozner Wohnung und die Lebenshaltungskosten zu stemmen, bleibe eine Herausforderung, räumt Dmitry Chaltsev offen ein. „Vor allem, wenn ich sehe, wie viel in meiner Branche im deutschsprachigen Ausland, aber selbst schon in Mailand gezahlt wird.“ Wie er dieser Herausforderung in Zukunft begegnet, wird sich zeigen. Aktuell hat Südtirol mit dem unibz-Absolventen in jedem Fall ein Brain gewonnen.