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Freie Universität Bozen

Wirtschaft Unternehmen

Weg mit Hierarchie?

Warum Hierarchien kein überholtes Modell, sondern ein bewährtes Mittel auf die wachsende Komplexität moderner Unternehmen sind, erklären Prof.in Marjaana Gunkel und Thomas Maran im Beitrag.

Von Marjaana Gunkel, Thomas Maran

Spielfiguren, die eine Pyramide formen
Foto: Pixabay | Gaby Stein

Organisationen wie Morning Star, Spotify oder Liip scheinen auf den ersten Blick zu beweisen, dass Hierarchien überflüssig sind. Morning Star, ein führendes Unternehmen für industrielle Tomatenverarbeitung, verzichtet weitgehend auf formale Hierarchie und fordert von Mitarbeitenden Selbst-Management. Der Web-App-Entwickler Liip hingegen nutzt Holacracy, eine radikal flache, selbstorganisierte Form der Organisation, und Spotify verwendet ebenfalls ein agiles Organisationsmodell. Diese Erfolgsbeispiele verleiten zu einem vorschnellen Schluss: Wenn sie es können, dann können es alle.

Aber woher kommt dieser Ruf nach weniger Hierarchie? Weniger Hierarchie bedeutet mehr Freiraum für Mitarbeitende an der vordersten Linie von Organisationen. Drei seit Jahrzehnten wirksame Trends sprechen für weniger Hierarchie. Erstens hat sich Italiens Wirtschaft in den letzten 50 Jahren klar zur Dienstleistungsgesellschaft entwickelt. Der Industrieanteil am Bruttoinlandsprodukt und an der Beschäftigtenstruktur liegt nur noch bei rund 25 Prozent, der Servicesektor bei etwa 75 Prozent. Wo Leistungen direkt an der Kundschaft entstehen, braucht es mehr Freiraum. Zweitens steigt die Spezialisierung. Höhere Qualifikation und engere Berufsprofile verlangen ebenso Freiraum, damit Fachleute gestalten können. Drittens beschleunigen sich Innovationszyklen für disruptive Technologien spürbar. Disruptive Angriffe sind jederzeit möglich. Unternehmen müssen deshalb Freiraum schaffen, um entlang ihrer Wertschöpfung kontinuierlich experimentieren zu können.

Blicken wir außerdem auf die globalen Rahmenbedingungen, finden wir uns in der BANI-Welt wieder. Das Akronym beschreibt eine Welt, die zunehmend von Brüchigkeit, Angst, Nichtlinearität und Unverständlichkeit (Incomprehensible) geprägt ist. Wir sehen uns also mit zunehmender Unsicherheit konfrontiert, die eine langfristige Planung von oben nach unten verhindert. Sind also flache Hierarchien die „onesize-fits-all“-Lösung für die neue Wirtschaft? Wir sagen Nein und zeigen, welchen Mehrwert funktionierende Hierarchien bringen.

Frontales Porträt einer Frau und eines Mannes, in eleganter Kleidung.
Prof.in Marjaana Gunkel und Thomas Maran sind an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften tätig. Foto: unibz

Die Lösung für ein uraltes Problem

Hierarchie bezeichnet eine strukturierte Rangordnung, in der die Rollen der Mitglieder einer Gruppe über- oder untergeordnet sind. Diese Rangordnung legt fest, wer wem Anweisungen geben kann, wer Entscheidungsverantwortung trägt und wer Informationen und Ressourcen innerhalb einer Gruppe verteilt.

Hierarchien sind die Lösung für ein uraltes Problem: Koordination. Sie sind die Antwort der Evolution auf die Herausforderung, sich als Gruppe zu koordinieren, um gemeinsame Ziele zu erreichen. Alle Spezies in der Natur, die in Gruppen leben, bilden ganz natürlich soziale Hierarchien. Ohne klare Hierarchie gibt es keine Führung und ohne Führung entsteht kein Freiraum, sondern es kommt zu Konflikten, Stillstand und Verschwendung. Deshalb gilt: Wer Hierarchien komplett abschafft, verzichtet auf eines der wirksamsten

Werkzeuge kollektiven Handelns von Menschen in Gruppen. Auch in Unternehmen ermöglichen erst Hierarchien ein gut funktionierendes Zusammenspiel von Steuerung und Ausführung durch zentrale Koordination.

Wie ermöglichen Hierarchien Steuerung und Ausführung?

Zur Steuerung: In Hierarchien übernehmen verschiedene Ebenen auch verschiedene Aufgaben: Langfristige, strategische Zielsetzung auf oberster Ebene, mittelfristige, taktische Steuerung für spezifische geografische, Funktions-oder Produktbereiche auf mittlerer Ebene und kurzfristige, operative Umsetzung an der vordersten Linie. Hierarchien erlauben es Führungskräften damit, Zielkonflikte zu vermeiden und sich von den Problemen des Tagesgeschäfts zu lösen, um stattdessen eine taktische oder strategische Perspektive zu übernehmen und vorausschauender zu denken. Nur durch eine Hierarchie bleibt unser Unternehmen steuerbar und kann über alle Einheiten hinweg zielgerichtet eine Strategie verfolgen.

Zur Ausführung: Indem wir die Wertschöpfungskette unseres Unternehmens in die dafür notwendigen Arbeitsschritte aufteilen und verschiedenen Einheiten zuweisen, schaffen wir Spezialisierung, klare Verantwortlichkeiten und Skalierbarkeit. Nur eine Hierarchie ermöglicht eine zentrale Koordination dieser zuvor arbeitsteilig getrennten Einheiten und eine Bündelung des Informationsflusses, was die Effizienz der Kommunikation erhöht: Anstatt, dass sich alle Einheiten untereinander abstimmen müssen, berichtet jede Einheit nur einer übergeordneten Rolle in der Hierarchie. Ohne klare Koordination der Aktivitäten drohen Doppelarbeit, Ineffizienz und Chaos.

Gilt also: je mehr Hierarchie umso besser? Nein! Hierarchien schaffen auch Probleme. Nicht jede strategische Initiative an der Spitze der Hierarchie berücksichtigt alle Details der operativen Realität ganz vorne in der Hierarchie. Zu viel Hierarchie kann auch die Initiative und Kreativität der Mitarbeitenden ersticken, weil sie womöglich zu wenig Freiraum zum Handeln haben.

Hierarchien schaffen also auch Probleme, aber wir schaffen noch mehr Probleme ohne sie.

Was die Forschung sagt

Die Forschung bekräftigt einige bereits gelebte Fakten: Hierarchien, bei denen Personen in koordinierenden Rollen Entscheidungen treffen, funktionieren besser als solche, bei denen Spezialisten dezentral eigenständig entscheiden. Wenn die Anzahl der Beschäftigten in Unternehmen wächst, werden ihre Hierarchien steiler, das heißt, es werden neue Ebenen in die Hierarchie eingeschoben, um wirksamer zu koordinieren.

Unternehmen wählen auch dann steilere Hierarchien, wenn die Komplexität ihrer Wertschöpfung hoch ist oder ihre Wertschöpfungskette schwer zerlegbare Aufgaben umfasst, die nicht streng arbeitsteilig organisiert werden können, sondern stark voneinander abhängig sind (z. B. gemeinsame Ressourcen, Technologien oder Kundengruppen). Hierarchien gelingt es hier, diese wechselseitigen Abhängigkeiten besser zu steuern, indem der Informationsfluss und der Koordinationsaufwand zentralisiert und auf mehrere Führungskräfte aufgeteilt wird.

Wann es ohne geht

Sind flache Hierarchien also nur ein Hype? Nein! Aber wir müssen wissen, wann und wie wir sie einsetzen. Flache Hierarchien oder auch das Empowerment von Gruppen durch delegative Führung oder sogar geteilte Führung sind Techniken, um Entscheidungsmacht zu dezentralisieren und so mehr Freiraum zu schaffen. Sie sind in bestimmten Branchen für spezifische Geschäftsmodelle besonders wirkungsvolle Lösungen.

Solche Lösungen führen oft zu weniger Bürokratie, schnellerer Entscheidungsfindung an der Schnittstelle zur Außenwelt der Organisation, höherer Motivation der Mitarbeitenden und mehr Innovationskraft. Aber nicht alle Mitarbeitenden wollen in selbst geführten Teams arbeiten, einige Mitarbeitende bevorzugen und fordern mehr Führung von oben. Damit solche Lösungen wirklich funktionieren, ist eine bestimmte Organisationskultur erforderlich: eine Kultur, die die Bedeutung von Transparenz, Vertrauen, psychologischer Sicherheit und kontinuierlichem Lernen hervorhebt. Organisationen, die solche Lösungen einsetzen, werden als TEAL-Organisationen bezeichnet. Sie schaffen Hierarchien ab und streben drei Kernprinzipien an: Selbstmanagement, Ganzheitlichkeit und ein evolutionäres Leitbild.

Diese Modelle sind aber nicht universell einsetzbar, sondern Lösungen für ganz spezifische Herausforderungen. Etwa für dynamische, innovationsgetriebene Umfelder oder für Aufgabenbereiche, die kreativen Freiraum benötigen, wie Forschung, Entwicklung, Service- oder Produktinnovation. Bei solchen Herausforderungen geben wir einzelnen Einheiten mehr Freiraum, um außerhalb der Logik unseres Unternehmens und unseres derzeitigen Geschäftsmodells zu experimentieren.

Flache Hierarchien werden also meistens punktuell, situativ und oft temporär bei einzelnen Gliedern der Organisation eingesetzt, aber nur selten über die gesamte Organisation hinweg.

Drei Fragen für Unternehmer:innen

Stellen Sie sich diese drei Fragen und entscheiden Sie dann, ob und wo Sie mehr oder weniger Hierarchie in Ihrem Unternehmen benötigen.

1. Wie komplex sind die Aufgabenbereiche Ihrer Wertschöpfungskette?

Je komplexer das Geschäft, desto wichtiger wird zentrale Koordination durch Hierarchie. Wenn Sie eine hohe Komplexität feststellen, prüfen Sie, ob Führungskräfte Schwierigkeiten haben, diese Aufgabenbereiche zu überblicken oder mit der Informationsflut zurechtzukommen. Eine weitere Hierarchieebene kann hier Führungskräfte entlasten und so bessere Entscheidungen im Sinne ihrer Strategie ermöglichen.

2. Wie gut lassen sich die Aufgabenbereiche Ihrer Wertschöpfungskette voneinander abgrenzen?

Je stärker die Aufgabenbereiche miteinander verstrickt sind, etwa durch geteilte Ressourcen, Technologien oder Kunden, desto mehr Koordination zwischen Einheiten ist nötig. In solchen Fällen hilft eine zusätzliche Hierarchieebene.

3. Wie dynamisch ist Ihr Markt?

In volatilen Märkten mit schnell wechselnden Kundenbedürfnissen und hohem Innovationsdruck müssen wir einigen Einheiten erlauben, flexibel mit neuen Lösungen zu experimentieren. Hier ist es sinnvoll, schrittweise auf flachere Strukturen oder geteilte Führung zu setzen, um genügend Freiraum für innovative Lösungen zu schaffen.

Fassen wir zusammen: Hierarchien sind kein überholtes Relikt, sie sind das Fundament funktionierender Unternehmen. Die Zukunft gehört einem klugen Sowohl-als-Auch: Erfolgreiche Unternehmen bewahren effiziente Hierarchien und entwickeln punktuell selbst geführte Einheiten dort, wo sie nützlich sind.

Dieser Artikel ist auch in der Südtiroler Wirtschaftszeitung erschienen.

Beitrag nur auf Deutsch verfügbar