Doktorat im Unternehmen
By Susanne Pitro

Das Doktorat – eine Voraussetzung für eine wissenschaftliche Karriere, ein anspruchsvoller Weg für Menschen, die sich ganz der Theorie und Forschung verschreiben wollen. So oder ähnlich wird der höchste akademische Grad in unserem Bildungssystem wahrgenommen. Ganz zu schweigen von Vorurteilen wie weltfremd, elitär oder wenig praxistauglich, die den „Überstudierten“ gelegentlich entgegengebracht werden. All das kann an der Freien Universität Bozen schnell entkräftigt werden; erst recht, wenn man Chiara Nezzi kennenlernt. Denn die junge Ingenieurin aus Verona macht aktuell ihr Forschungsdoktorat in Advanced-Systems Engineering an der Fakultät für Ingenieurwesen – und arbeitet dennoch zumindest zwei Tage die Woche beim Brixner Maschinenbauer Progress Maschinen & Automation. Dort hat die Doktorandin Ende 2024 die Leitung eines kleinen Teams übernommen, in dem sie auch schon in den Jahren davor digitale Zwillinge für die riesigen Maschinen und Anlagen für Betonstahlbearbeitung von Progress entwickelte.
Mit dieser virtuellen Darstellung aller Prozesse von bisher rund einem halben Dutzend Anlagen kann die gesamte Installations- und Testphase von Maschinen, die bisher erst im Zuge ihres Aufbaus beim Kunden vorgenommen worden war, bereits vor der Lieferung erfolgen. Durch diese virtuelle Inbetriebnahme werden etwaige Probleme bereits viel früher sichtbar und besser handelbar. Darüber hinaus ist die Ingenieurin dabei, diese virtuellen Modelle zusätzlich für Energieeffizienz zu nutzen. So soll über den digitalen Zwilling der Maschinen in einem ersten Schritt der Energieverbrauch des gesamten Produktionsprozesses 1:1 abgebildet werden. „Unser Ziel ist es dann, auf dieser Basis zu errechnen, durch welche Optimierungen und Umstellungen des Prozesses Energieeinsparungen möglich sind“, erklärt Chiara Nezzi mit sichtbarer Begeisterung.
Theorie praktisch umsetzen
Denn angewandte Forschung ist die wahre Leidenschaft der Absolventin eines Bachelors und Masters in Ingenieurwesen an der unibz. „Ich gehöre nicht zu jenen Wissenschaftlerinnen, die sich für abstrakte Modelle begeistern. Für mich ist die Theorie wichtig und interessant, doch dann habe ich auch das Bedürfnis, sie praktisch umzusetzen und idealerweise einen konkreten Nutzen daraus zu schaffen“, sagt sie.
Ein Doktorat war in ihrer Karriereplanung deshalb anfangs gar nicht vorgesehen. Die Freie Universität Bozen hatte Chiara Nezzi ermöglicht, ihre Leidenschaft für Physik und Mathematik mit der Liebe zu Sprachen und speziell für Deutsch zu verbinden, das sie bereits an einem klassischem Lyzeum in Verona gelernt hatte. Nach fünf Jahren Studium hatte sie sich aber eigentlich für den Arbeitsmarkt bereit gefühlt. Doch das Ende ihres Studiums fiel ausgerechnet mit dem Lockdown der Covid-Pandemie zusammen. Gute Jobangebote waren in dieser Zeit bekanntlich rar. Stattdessen erhielt sie ein Angebot von einem ihrer Uniprofessoren: Erwin Rauch bot ihr an, anfangs auf Vertragsbasis in der Smart Mini Factory der Fakultät für Ingenieurwesen mitzuarbeiten. „Nachdem wir schon während des Studiums ein sehr persönliches Verhältnis zu unseren Dozent:innen hatten und ich auch die Aktivitäten im Labor sehr spannend fand, sagte ich insbesondere nach dem Besuch bei Progress sofort zu und ließ mich letztendlich doch für ein Doktorat begeistern – vor allem, weil Prof. Rauch mir anbot, es in dieser hybriden Form zu machen“, erzählt Nezzi. In drei Jahren absolviert sie nun nicht nur ein Forschungsdoktorat, sondern kann beim Abschluss ihres PhD auch drei Jahre Arbeitserfahrung – und eine ganze Reihe digitaler Zwillinge – vorweisen.
Die positive Erfahrung hat in der Forschungsgruppe Industrial Engineering and Automation (IEA) der Fakultät für Ingenieurwesen mittlerweile Schule gemacht: Aktuell promovieren drei weitere Doktorand:innen von Prof. Erwin Rauch in Südtiroler Unternehmen bzw. Fraunhofer Italia.
Dieser Text ist in leicht veränderter Form in der Südtiroler Wirtschaftszeitung erschienen.
Related people: Erwin Rauch, Chiara Nezzi