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Alle Wissenschaften haben ihren philosophischen Moment

Die Philosophie spielt auch in der Welt der Forschung eine wichtige Rolle. Erst recht in Krisenzeiten. Ein Gespräch mit dem Moralphilosophen Ralf Lüfter.

By Rosmarie Hagleitner

Eine Person steht im einem Korridor der Universität.
Moralphilosoph Ralf Lüfter. Foto: unibz

Philosophie und Ethik an einer Fakultät für Wirtschaftswissenschaften – sind Sie und Ihre Kollegen die Exoten an der Fakultät? 

"Exoten", das scheint mir ein zu starker Begriff, aber vielleicht erwartet man sich von einer Fakultät für Wirtschaftswissenschaften nicht unbedingt, dass dort auch an philosophischen Fragestellungen gearbeitet wird, die in Zusammenhang mit der ökonomischen Forschung stehen.

Warum braucht die Wirtschaft die Philosophie? 

Beides sind Formen des menschlichen Wissens und Versuche des Menschen, sich über sich selbst und die Welt zu verständigen. Wie jede Wissenschaft, baut auch die Ökonomie auf Begriffe, die sich nicht von selbst verstehen, sondern einer Klärung bedürfen. Es ist ein Wesenszug des Menschen, zu definieren und wir orientieren uns, indem wir definieren. Die Wirtschaftswissenschaft hat eine bestimmte Methode, dies zu tun. Der Beitrag der Philosophie in diesem Zusammenhang kann sein, sowohl den Weg hin zur Definition als auch die Definition selbst in ihren Voraussetzungen und damit auch in ihren Möglichkeiten sichtbar zu machen und damit die Gelegenheit zu geben, dass beispielsweise eine veränderte, erweiterte oder neue Definition eines Phänomens auftreten kann oder dass diesbezüglich neue Fragestellungen in Betracht gezogen werden.

Im Studiengang Ökonomie, Politik und Ethik werden junge Menschen in einem breiten Spektrum ausgebildet. Warum brauchen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft genau solche Menschen? 

Das Charakteristische dieser Ausbildung ist, dass im Hinblick auf die Ökonomie auch politischen und philosophischen Fragestellungen Raum gegeben wird und dass die Studierenden neben dem Umgang mit quantitativen Aussagen die Fähigkeit erlangen, kritisch und analytisch zu denken, mit den Ergebnissen und Vorstellungen ökonomischen Denkens umzugehen und gesellschaftliche sowie politische Zusammenhänge zu erkennen. Darüber hinaus scheint es mir wichtig, dass sie sich eine gewisse Diagnosefähigkeit der eigenen Zeit gegenüber aneignen. Die eigene Zeit diagnostizieren zu können, ist enorm schwierig, weil Vieles selbstverständlich und normal erscheint, das bei genauerer Betrachtung insofern zum Denken einlädt, als es weitere Fragen provoziert. Dieses Beurteilen der eigenen Zeit ist etwas, was die Studierenden bei uns im Studiengang lernen, und was für ihre unterschiedlichen zukünftigen Arbeitsbereiche von Relevanz sein kann. 

In der Naturwissenschaft ist Forschung greifbar und exakt. Wie funktioniert Forschung in Ihrem Bereich? 

Mathematische Exaktheit gibt es in der Philosophie nicht, was aber nicht heißt, dass es im philosophischen Denken nicht den Anspruch auf Genauigkeit gibt. Im Gegenteil - die Genauigkeit liegt in dem Versuch, das eigene Wissen dahingehend zu begründen, dass seine Voraussetzungen in Frage gestellt werden und es dadurch erst in seiner ganzen Möglichkeit gesehen wird. Und deshalb ist die Nachvollziehbarkeit der Begründung ein wesentlicher Bestandteil der philosophischen Forschung. Gleichzeitig glaube ich, dass die Fragestellungen, mit denen sich die Philosophie beschäftigt und das Wissen, das sie zutage fördert und begründet, sehr ernsthaft sind und dass die Relevanz philosophischer und ethischer Fragestellungen gerade in Zeiten von Krisen besonders evident wird. Pandemie und Krieg zeigen das ziemlich deutlich. Prinzipiell gibt es einen grundsätzlichen Unterschied in der Art und Weise, wie die methodischen Wissenschaften und wie die Philosophie ihr Wissen begründen. Aber die beiden stehen nicht in einem Gegensatz, sondern ich würde sagen, die beiden ergänzen sich. 

Ist Interdisziplinarität in der philosophischen Forschung deshalb noch wichtiger als in anderen Bereichen? Und welche Kreuzungspunkte – Crossroads – mit anderen Fakultäten gibt es?

Ich würde sagen, dass alle Wissenschaften in dem Augenblick, in dem sie ihre Grundannahmen in der angedeuteten Weise in Frage stellen, ihren philosophischen Moment haben. Es gibt immer die Verbindung mit dem Philosophischen, was für uns bedeutet, dass wir viele Berührungspunkte mit anderen Fakultäten, Universitäten und Partnerorganisationen haben. Mit den Touristiker:innen unserer Fakultät haben wir beispielsweise an einem Projekt zum Begriff der Authentizität gearbeitet. Ein Projekt mit der Fakultät für Bildungswissenschaften gab es zur Inklusion im schulischen Bereich. Aktuell arbeite ich an einem Projekt, in dem es um die ethischen Implikationen ökonomischer Verantwortung geht und der Horizont ethischer Überlegungen ausgelotet wird. Und bei all diesen „Crossroads“ zeigt sich, dass Philosophie per se und wie kein anderes Fach, interdisziplinär ist. 

Ihr aktuelles Projekt MOSRAP (Moral Hazards in Sustainability Research and Policy) ist im Bereich der Nachhaltigkeitsforschung angesiedelt. Worum geht es? 

Die Forschung ist in nahezu allen politikrelevanten Bereichen auf die Sicherung der Nachhaltigkeit ausgerichtet. Auch an der unibz wird dieses Thema groß geschrieben. 2022 wurden die Forschungsgelder an die 17 Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals - SDGs) der Vereinten Nationen gebunden, das Kompetenzzentrum für ökonomische, ökologische und soziale Nachhaltigkeit eingerichtet und die Allianz der Forschung und Lehre für Nachhaltigkeit in Südtirol gegründet. Unser Forschungsprojekt MOSRAP beleuchtet kritische Aspekte oder Stolpersteine, sogenannte Moral Hazards, in der Nachhaltigkeitsforschung und -politik im Rahmen der 17 Ziele aus ökonomischer, politischer, rechtlicher und ethischer Perspektive. Der Begriff „Moral Hazard“ bzw. „Moralisches Risiko“ stammt ursprünglich aus der Versicherungswirtschaft und beschreibt einen Sachverhalt, der ungewollt unvorsichtiges oder eigennütziges Verhalten begünstigt, weil nicht die Urheber für die Kosten ihres Handelns aufkommen müssen, sondern ihre Vertragspartner oder die Allgemeinheit. So können "Moral Hazards" zum Beispiel dazu führen, dass Verhaltensweisen, die wünschenswert und förderungswürdig erscheinen, sich im Zuge ihrer Umsetzung als problematisch erweisen und nicht zu dem führen, was ursprünglich intendiert war.

Und wo besteht im Bereich der Nachhaltigkeitsforschung ein solches Risiko?

Bei unserem Projekt beziehen wir uns in einem ersten Schritt auf das 8. SDG, das menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum umfasst. Wie alle SDGs impliziert dieses Ziel bestimmte moralische Verpflichtungen, die durch verantwortungsvolle menschliche Praktiken und politische Entscheidungen erfüllt werden sollen. In diesem Fall, die Förderung von nachhaltigem und inklusivem Wirtschaftswachstum. Doch diese implizite Verpflichtung wirft eine Reihe grundlegender Fragen auf: Welche Art von ökonomischem Wachstum ist gemeint? Wie sieht eine menschenwürdige Zukunft aus? Welche Art von Wachstum zukunftsfähig? Ohne den Versuch einer Antwort auf solche Fragen bleibt das Ziel "Wirtschaftswachstum" unbestimmt und ohne ethische Grundlage. Es besteht die Gefahr, dass eine Vorstellung von Wachstum unhinterfragt übernommen wird, die der Zukunft gegenüber unverantwortlich und im Rahmen der SDGs nicht gerechtfertigt erscheint. Hier wird nochmals deutlich, dass philosophische Fragen im Rahmen wirtschaftswissenschaftlicher Forschung zwar unerwartet erscheinen, bei genauerer Betrachtung ergeben sich diese jedoch von selbst und sind unausweichlich.

Dieses Interview ist im Wissenschaftsmagazin Academia von Eurac Research und unibz erschienen.

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