Dialekte und Minderheitensprachen hautnah erleben
Von Rosmarie Hagleitner

Mehrsprachigkeit ist ein zentrales Merkmal der Südtiroler Identität und prägt sowohl den Alltag als auch die kulturelle Vielfalt der Region. Neben den Amtssprachen Deutsch, Italienisch und Ladinisch finden sich zahlreiche Dialekte und Kleinsprachen wie Bersntolerisch oder Zimbrisch in der Region des Historischen Tirol. Sprache und Dialekt sind weit mehr als nur ein Kommunikationsmittel – sie spiegeln Kultur, Geschichte und Identität wider. Doch was genau ist ein Dialekt? Was sind die Vorteile von Mehrsprachigkeit und was sind die Merkmale der Tiroler Dialekte und des Ladinischen? Das waren nur einige der Fragen, mit denen sich 33 Schüler:innen des Kunstgymnasiums Cademia in St. Ulrich am 11. März an der Fakultät für Bildungswissenschaften auseinandersetzten. Anlass war der vierte Tag der historischen Mehrsprachigkeit im Rahmen des Citizen Science Projekts VinKiamo Südtirol, bei dem sich junge Menschen mit unterschiedlichen Aspekten von Dialekten und Minderheitensprachen und der Sprachforschung befassen.
Seit Beginn des Projekts haben über 400 Schüler:innen aus 24 Klassen teilgenommen. Der Projekttag am Campus Brixen diente für die beiden Grödner Schulklassen als Auftakt, um einen ersten Eindruck von Forschung und dem Universitätsleben zu gewinnen. Prof.in Birgit Alber und Forscherin Ruth Videsott widmeten sich in ihrer Einführung der Linguistik der Dialekte und Kleinsprachen – mit besonderem Fokus auf die Tiroler Dialekte und das Ladinische. Die Jugendlichen erfuhren, dass Dialekte eigenständige Sprachsysteme mit eigenen Laut-, Wort- und Satzstrukturen sind. Auch wenn sie meist mündlich weitergegeben werden und nicht kodifiziert sind, prägen sie die sprachliche Identität einer Region. Anders als bei der Standardsprache gibt es hier keine festgeschriebenen Regeln, was „richtig“ oder „falsch“ ist.
Anschließend tauchten die Schüler:innen an neun interaktiven Stationen in die Welt der Sprachforschung ein und erkundeten historische Sprachvarietäten, Tiroler Dialekte, ladinische Sprachformen und seltene Kleinsprachen mit unterschiedlichen Methoden. Das Spektrum reichte von der Erstellung eigener Sprachenporträts über die akustische Analyse von Sprache mit Spektrogrammen bis hin zum spielerischen Zugang mit Sprachenmemory und syntaktischem Puzzle. Darüber hinaus erfuhren die Jugendlichen, dass sogar Fluch- und Schimpfwörter Gegenstand wissenschaftlicher Forschung sind und dass in Südtirol Dialekt-Sprachkurse angeboten werden. Ein besonderes Highlight waren die ersten Sprechversuche im Bersntolerischen, einer Kleinsprache, von der viele gar nicht wussten, dass sie existiert.
In diesem gemeinsamen Projekt von Universität und Schulen schlüpfen die Jugendlichen in einem nächsten Schritt selbst in die Rolle der Sprachforschenden, indem sie in ihren Heimatgemeinden die Menschen älterer Generationen dabei unterstützen, einen digitalen Fragebogen auszufüllen. Diese Sprachdaten fließen in die Plattform AlpiLinK ein – die größte digitale Audio-Landkarte, die Dialekte und Sprachvarietäten Norditaliens dokumentiert. „Durch diese Feldforschung der Schüler:innen entsteht eine Balance: nicht nur die Jugend, sondern alle Generationen werden einbezogen“, erklärt Linguistin und Dialektexpertin Prof.in Birgit Alber. „Gleichzeitig erhoffen wir uns, dass die junge Generation eine neue und positive Sicht auf Mehrsprachigkeit gewinnt – eine Sicht, die auch Dialekte und Kleinsprachen umfasst und nicht nur die großen, prestigeträchtigen Sprachen“, so die Sprachwissenschaftlerin. Zudem biete die Veranstaltung wertvolle Einblicke in die linguistische Forschung – von Spektrogrammen über Fragebögen bis hin zu modernen Methoden der Sprachwissenschaft.
Die teilnehmenden Schüler:innen gewannen an diesem Tag nicht nur wertvolle Einblicke in die Sprachenvielfalt, sondern erlebten auch, wie lebendig Dialekte und Minderheitensprachen sein können. Marcel Dellago und David Moroder, beide ladinischsprachig, betonten: „Es ist uns wichtig, dass noch Ladinisch gesprochen wird, denn das ist die Sprache unserer Familien.“ Für Annika Amort war es besonders spannend zu lernen, wie ein Dialekt eigentlich aufgebaut ist und dass es auch eine eigene Grammatik gibt, während Leonie Moser besonders fasziniert vom Bersntolerischen war: „Ich habe vorher noch nie etwas von dieser Sprache gehört.“
Die Aktivitäten von VinKiamo Südtirol sind Teil des PNRR-Projektes iNEST (spoke 1), das sich zum Ziel setzt, Wissenschaftler:innen in der Region des Triveneto zu vernetzen.
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