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Free University of Bozen-Bolzano

Linguistics Education Society

Von wegen Muttersprache

Ein symbolisch aufgeladener Begriff steht heute im Mittelpunkt eines UNESCO-Gedenktages. Linguistische Betrachtungen mit Sprachwissenschaftlerin Prof.in Andrea Abel.

By Susanne Pitro

Lächelnde Frau mit Brille vor Fensterfront mit Verkleidungen.
Sprachwissenschaftlerin Andrea Abel ist Professorin an der Fakultät für Bildungswissenschaften der unibz und Leiterin des Eurac-Instituts für Angewandte Sprachforschung. Foto: Eurac Research

Heute, am 21. Februar, wird der von der UNESCO ausgerufene Tag der Muttersprache begangen. Ein Festtag für eine Sprachwissenschaftlerin?

Prof.in Andrea Abel: Jeder Tag, an dem wir uns aktiv Sprachthemen zuwenden, ist ein guter Tag. Allerdings wird der Begriff der Muttersprache mittlerweile in der Linguistik als problematisch angesehen.  

Warum das?

Dafür gibt es gleich mehrere Gründe. Allen voran ist nicht eindeutig definiert, was mit Muttersprache gemeint ist. Wenn wir den Begriff aus der Spracherwerbsperspektive betrachten, ist es die erste Sprache, die erworben wird. In diesem Fall sprechen wir heute in der Linguistik üblicherweise von der Erstsprache, nicht der Muttersprache. Doch natürlich können wir auch mehr als eine Sprache als Erstsprache lernen; wissenschaftlich wird dies bilingualer Erstspracherwerb genannt. Darüber hinaus ist es gar nicht so einfach, eine klare zeitliche Grenze zwischen dem Ende des Erstspracherwerbs und dem Beginn des Zweitspracherwerbs zu ziehen.

Wenn eine Zweijährige Italienisch in der Sandkiste oder bei der Nonna lernt, könnte es beispielsweise auch als Erstsprache gelten?

Von Erstsprache sprechen wir im Allgemeinen dann, wenn der Kontakt mit einer oder eben auch mehr als einer Sprache in der Familie ab der frühesten Kindheit stattfindet. In Bezug auf den Zweitspracherwerb und die Begrifflichkeiten dazu wird es schon komplizierter: Da kann man von einem frühen sukzessiven Zweitspracherwerb sprechen, der mit etwa drei, vier Jahren einsetzt, oder einem kindlichen Zweitspracherwerb ab ungefähr fünf Jahren. Diese Unterscheidung ist deshalb relevant, weil Befunde dafür sprechen, dass der ganz frühe Zweitspracherwerb dem der Erstsprache ziemlich ähnlich ist.

In puncto Spracherwerb oder Sprachenlernen wird aber auch immer von muttersprachlichem Niveau gesprochen?

Ganz genau, als Synonym für eine sehr hohe Sprachkompetenz. Doch hier stellt sich die Frage: Was soll man sich unter muttersprachlichem Niveau eigentlich vorstellen? Wie perfekt muss eine Sprache dafür beherrscht werden?

Vielleicht ohne hörbaren Akzent, ohne Grammatikfehler zu machen?

Ja, aber Sprache ist mehr als nur Fehler zu erkennen oder grammatische Regeln perfekt umzusetzen. Interessant ist, wofür ich die Sprache einsetze, was ich damit mache. Ich möchte mit Freundinnen kommunizieren, etwas erzählen, einen Film verstehen, mich bei jemandem beschweren. Wir betrachten Sprache heute viel stärker auf der Ebene der Pragmatik als aus der Perspektive vermeintlich perfekter Kompetenzen.

Jenseits der Wissenschaft wird Muttersprache aber auch oft aus ethnischer, ja vielleicht sogar nationalistischer Perspektive betrachtet.

Das ist eine weitere Dimension dieses Begriffs. Die Vorstellung, dass sie gewissermaßen vererbt wird, mit biologischen Aspekten verbunden sei. Und das beeinflusst mitunter die Vorstellungen von Nation und Nationalsprache.

Das Konzept der Muttersprache kann auch eine stark identitätsbezogene Komponente aufweisen, hier geht es um das kulturelle Erbe einer Gemeinschaft. Interessanterweise werden Sprachen teilweise sogar dann als Muttersprache bezeichnet, wenn sie von großen Teilen der Gemeinschaft nicht einmal beherrscht werden, wie zum Beispiel das Deutsche, genauer eine dialektale Form davon, bei den Russlanddeutschen.

Laut UNESCO steht der Tag der Muttersprache vor allem im Zeichen von sprachlicher und kultureller Vielfalt, mit klarem Fokus auf Mehrsprachigkeit. Auch in Südtirols Realität wird Muttersprache aber viel öfter exklusiv statt inklusiv gesehen.   

Ganz im Gegensatz zur jüngeren Literatur in der Linguistik und Sprachdidaktik. In der Forschung geht man aktuell immer mehr davon ab, so stark auf Einzelsprachen zu fokussieren. Denn es zeigt sich immer klarer, dass einzelne Sprachen in unserem Gehirn entgegen der landläufigen Vorstellung nicht in getrennten Schubladen abgespeichert werden.

Was passiert stattdessen?

Man geht davon aus, dass wir über integrierte linguistische Repertoires verfügen, mit all unsere Sprachen, aber auch sprachlichen Varietäten wie Dialekten und Jargons. Ein dynamisches Gefüge, das sich immer wieder neu formt, verändert, anpasst. In der Fachsprache wird dies mit neuen Begriffen wie Multikompetenz oder Translanguaging beschrieben. Sprich: Wir mischen Elemente aus verschiedenen Sprachen immer wieder, leihen uns von einer Sprache Ausdrücke für eine andere, übernehmen grammatische Muster …

Doch führt nicht genau das dazu, dass die eigene Muttersprache nicht „ordentlich“ gelernt wird, wie es oft heißt?

Das war aus linguistischer Sicht schon immer eine äußerst problematische Grundannahme. Die aber auch zeigt, wie stark wir von Sprachideologien geprägt sind und wie stark diese Vorstellungen unsere Gesellschaft, das Bildungssystem und natürlich auch den medialen Diskurs über Sprache beeinflussen. Natürlich kann es sein, dass sich manchmal sprachliche Elemente vermischen, wenn mehrere Sprachen parallel gelernt werden. Da wird dann zum Beispiel die Endung von einer Sprache auf eine andere übertragen. Doch solche Dinge sollten wir nicht als lästige Fehler betrachten. Sie zeigen vielmehr, dass man bestimmte Elemente in einer Sprache schon so gut gefestigt hat, dass man sie vorübergehend als Behelf für die andere Sprache verwendet. Je größer mein Sprachrepertoire ist, desto leichter fällt es dann auch, mir weitere Sprachen gut anzueignen.

Wenn wir von Muttersprache als kulturelles Identifikationselement sprechen, ist damit im deutschsprachigen Südtirol aber wohl eher der Dialekt als die Standardsprache gemeint.  

Ja, es gibt auch Studien, die belegen, dass vor allem deutschsprachige Jugendliche in Südtirol damit tendenziell den Dialekt meinen. Die Erstsprache muss nicht unbedingt eine Standardsprache sein, also eine standardisierte Sprache, für die es auch Wörterbücher und Grammatiken gibt. Seit den 70er-Jahren gibt es in der Linguistik das Konzept der äußeren und inneren Mehrsprachigkeit. Erstere umfasst das Beherrschen mehrerer verschiedener Sprachen, also zum Beispiel Deutsch, Italienisch oder Albanisch. Bei der inneren Mehrsprachigkeit geht es dagegen genau um die unterschiedlichen Varietäten in einer Sprache. Das kann ein Dialekt sein, eine Fachsprache, ein umgangssprachliches oder formelles Deutsch. Eine Ärztin spricht mit ihren Kollegen anders als mit einer Patientin, ich in einem Interview anders als in einem Vortrag.

Und dennoch nimmt man in Südtirol oft einen Minderwert oder zumindest eine Unsicherheit wahr, die Standardsprache nicht ausreichend zu beherrschen.

Der Dialekt wurde lange als Sprachbarriere gesehen, also als Hindernis dabei, die Standardsprache gut zu lernen. Auch wenn man von dieser Annahme längst abgekommen ist, hält sie sich teilweise hartnäckig in unseren Köpfen. Was die Beherrschung des Standarddeutschen betrifft, hat die KoKo-Studie, ein umfassender Vergleich der Schreibkompetenzen von Südtiroler, Tiroler sowie Thüringer Schüler:innen bereits vor rund zehn Jahren belegt, dass es in den Bereichen Rechtschreibung und Grammatik keinerlei Rückstand bei Südtirols Jugendlichen gibt. Bei der Textkohärenz hingegen und der Fähigkeit, überzeugend zu argumentieren, wurden in Südtirol ein wenig mehr Schwierigkeiten verzeichnet als in den Vergleichsregionen.

Und im Mündlichen?

Zum mündlichen Gebrauch der Standardsprache etwas zu sagen, ist noch schwieriger. Denn eigentlich orientiert sich die Definition von Standardsprache ganz stark an einem geschriebenen Standard. Eine Art idealen Standard hören wir praktisch nie. Doch ist es tatsächlich schlimm, wenn zum Beispiel mal ein dialektaler Ausdruck in einem Gespräch in Standardsprache verwendet wird? Oder wenn man einen bestimmten Akzent hört? Und dann ist noch etwas anderes zu berücksichtigen: Deutsch ist eine plurizentrische Sprache.

Das heißt, es gibt nicht nur einen Standard?

Ja, es gibt in Deutschland, Österreich und der Schweiz, aber auch in Südtirol Unterschiede in der Standardsprache – ob in Aussprache, Grammatik oder Wortschatz. Wir können in Österreich oder in Südtirol zum Beispiel ohne Weiteres Karfiol sagen oder schreiben, auch wenn man in Deutschland dafür Blumenkohl verwendet. In den kleineren deutschen Sprachräumen besteht die Tendenz, sich an der dominanten Varietät, sprich an Deutschland, zu orientieren. Und es gibt viele Unsicherheiten, was Dialekt und was – in unserem Fall – Südtiroler Standard ist. Deshalb hier am Rande: Ja, Karfiol ist auch Standarddeutsch.

Sprich, der Tag der Muttersprache sollte auch Anlass geben, uns an unseren Sprachen in all ihrer Vielfalt zu erfreuen und weniger Angst vor Fehlern zu haben?

Absolut. Ich denke, auch in den Schulen sollten wir in Zusammenhang mit Sprachen viel mehr vom Prinzip „richtig oder falsch“ weggehen und uns mehr darauf konzentrieren, was in einem bestimmten Kontext, einer bestimmten Situation mehr oder weniger angemessen ist. Also, da kann zum Beispiel „mein Freund treffen“ einerseits ein Grammatikfehler in einem Aufsatz sein, andererseits kann es im Mündlichen ganz normal sein; da lassen wir Endungen oft einfach weg.  In manchen Situationen ist es absolut angemessen, wenn wir den Dialekt verwenden, während es in anderen Situationen nicht angebracht ist. Manchmal verwenden wir in bestimmten Situationen auch eine Form, die weder Dialekt noch Standard ist, sondern irgendetwas dazwischen. Wir sprechen in der Linguistik von einem Dialekt-Standard-Kontinuum. Das kann man sich wie einen Regler zwischen Dialekt und Standard vorstellen, der je nach Situation ein wenig in die eine oder andere Richtung angepasst wird.

Ein schönes Bild, das gut zeigt, wie lebendig Sprache ist.

Und wie sie sich ständig verändert. Auch die Standardsprache passt sich ständig an. Bereits im Vergleich zu vor 20 oder gar 100 Jahren haben sich die sprachlichen Angaben in Grammatiken und Wörterbüchern teilweise geändert. Warum? Weil diejenigen, die solches Kodizes schreiben, den Leuten aufs Maul schauen, um Martin Luther zu zitieren. Das heißt, es werden möglichst viele Daten von Sprechenden und Schreibenden gesammelt, und wenn sich dabei neue Wörter oder Formen durchsetzen, werden die Regeln irgendwann entsprechend angepasst.

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